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Zettelwirtschaft

Über das Abschiednehmen vom Augenblick

Ich erinnere mich an Tage, die ich als Kind mit Freunden im Wald verbracht habe. Ich erinnere mich besonders oft an Erlebnisse im Abendlicht. Komisch, dass mir gerade das helle Licht der untergehenden Sonne so lebhaft im Gedächtnis geblieben ist. Aber ich habe eine Theorie:

Als Sänger bin ich oft wochenlang mit Tourtheaterstücken unterwegs. Wir fahren von einem Spielort zum nächsten. An die Küste, in die Berge, in flaches windgepeitschtes Land und in waldige Hügel. In kleine Dörfchen oder nach Berlin.

An jedem Tag erlebe ich so viele Dinge, wie in anderen Zeiten in einer guten Woche. So viele Kinder die überglücklich nach mehr verlangen. Mehr Musik. Mehr Geschichten. Mehr Abenteuer, So viele Orte. So viele Unterkünfte, Restaurants, Gespräche. Ich versuche mich an alles zu erinnern. Und ich versuche die Dinge die mir widerfahren zu besprechen, aufzuschreiben, zu zeichnen. Aber es sind so viele.

Oft fallen mir nach Jahren Texte in die Hände, die ich vollkommen vergessen habe und sobald ich darin lese, wird die Zeit, in welcher der Text entstanden ist, wieder in mir lebendig. Ich weiß, wie ich mich gefühlt habe und was mich beschäftigte.

Ich denke dieses Bedürfnis das Vorbeihuschen der Erscheinungen zumindest aufzuzeichnen, ist der Grund warum ich schreibe. Damit nicht all diese Schätze auf den Meeresgrund sinken, um nie wieder zum Vorschein zu kommen. Damit man wenigstens eine Schatzkarte findet, die einem zu dem nie erfüllte Versprechen führt, die verlorenen Tage wieder zu erleben.

Ein kleines Mädchen ist heute nach der Vorstellung zu mir gekommen. Sie hat gesagt: „Ich hoffe wir sehen uns wieder.“ Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen. Aber es ist etwas geschehen an diesem Vormittag. Eine Erinnerung wurde geteilt und wenn sie auch in Richtung des Meeresgrundes sinkt, wirkt sie von dort fort und leuchtet aus der Dunkelheit zu uns herauf.

Ich glaube es ist dieses Abschiednehmen vom Augenblick, dass im Abendsonnenlicht seinen Ausdruck findet. Wir lassen ihn los und er versinkt in der Vergangenheit, wie die Sonne hinter den Hügeln versinkt.

Wir können versuchen das Versinken zu beschreiben, aber versinken müssen alle diese Erlebnisse.

Es bleibt im besten Falle eine ausführliche Zettelwirtschaft zurück. Trotzdem sind einige dieser Zettel so mächtig, dass sie das ganze Leben in neue Bahnen lenken. Und vor allem beginnt das Wirken der Erfahrungen oft erst nach dem Versinken der Erinnerung.

Deshalb ist es im tiefen Wald auch immer eine Märchennacht. Licht ist zwar überall, das Leuchten des Regenbogensees, oder das Prasseln des Funkenwurms. Aber die Bewohner des Waldes sind Traumwandler und die Phantome verlorener Erinnerungen. Sie müssen weiter im Mondschein ihre Feste feiern, denn aus der Nacht wirken die Erfahrungen fort und die Zettel des Tages werden zu Geschichten, die ihren eigenen Gesetzen folgen.

Und wenn die Sonne aufgeht, verzieht sich der Zauber des tiefen Waldes wie Nebel. Aber nur um in der nächsten Nacht wieder aus den Wiesen zu steigen.

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